Kommentare zu dem Papier der AG Pflege Qualität in der Pflege – eine Begriffsannäherung, Stand 2020-02-13

Fahrdorf, den 2020-04-09

Vorweg

Der Kontext der Definition von Qualität sollte nicht bei der Pflege, sondern dort gesucht werden, wo das Wort „Qualität“ benutzt wird.

Über Qualität kann man in vielen Zusammenhängen sprechen: in der Philosophie als Beschaffenheit oder Wesen. Qualität als Gegenteil von Quantität oder wenn Quantität in Qualität umschlagen soll. Bei Sorten von Material (Tuch in Manchester-Qualität) oder bei Arzneimitteln, auf deren pharmazeutische Qualität es ankommt.

Deswegen empfehle ich, zunächst den Kontext zu benennen, in dem hier über „Qualität in der Pflege“ gesprochen werden soll.

Für die Arbeitsgruppe einer Fachgesellschaft kommt nur der Kontext „Qualitätsmanagement“ infrage, wenn sie “Qualität definieren will..

Im QM wird immer über die Qualität gesprochen von

(1)   Produkten oder (Dienst)leistungen, die von einem Anbieter (hier: die Pflegenden) für jemanden (hier Menschen, die der Pflege bedürfen) erstellt werden. Sie sind insoweit immer „kundenzentriert“.

(2)  Dazu gehört ein gewisser organisatorischer Rahmen. Die Leistung muss im Zusammenwirken mehrerer Menschen erbracht werden. Bei Pflege durch eine Einzelperson macht es keinen Sinn, von QM zu sprechen.

(3)  In den Kontext gehört weiter, dass die Leistung immer für eine Gegenleistung erstellt wird (Austausch). In dem Papier der AG wird das sehr richtig als Abgrenzung der professionellen zur Laienpflege hervorgehoben. Letztere kann zwar auch gut oder schlecht sein. Man kann auch an barmherzige Leistungen durchaus Anforderungen stellen. Man kann deren Erfüllung aber nicht einklagen.

Über „Qualität in der Pflege“ zu reden, macht Sinn nur im Kontext der professionellen Pflege. Sie bietet abgrenzbare Einzelleistungen an, die oft zu größeren Komplexen gebündelt werden. Sie geht aus einer institutionellen Kooperation hervor (Krankenhaus, Pflegeheim, Pflegedienst o. Ä.). Sie beruht auf einer beruflichen Ausbildung. Sie wird bezahlt, weil die Leistungserbringer ihren Lebensunterhalt darauf aufbauen. QM dient dazu, die Erstellung der Leistung so zu organisieren, dass die Anforderungen derer erfüllt werden, für die sie erbracht werden – etwas anderes macht keinen Sinn. Manchmal ist es erforderlich, den Nachweis zu führen, dass das Ergebnis erreicht wurde.

Um QM zu betreiben, muss man wissen, was mit Qualität gemeint ist.

Logisch.

Kommentar 1

Die Definition des IOM (1990!) ist unzureichend. Sie hat drei schwerwiegende Fehler:

  • Sie nennt Gesundheitsdienstleistungen für Individuen und für Populationen in einem Atemzug. Das, was dann mit „desired health outcomes“ herauskommt, sind aber sehr unterschiedliche outcomes. Bei einer Epidemie wirken wir mit pflegerischen Leistungen auf einzelne Patienten ein und messen den Erfolg am einzelnen Patienten. Das ist patientenzentriert. Maßnahmen, die auf die Population gerichtet werden, sind ganz andere. Das Ergebnis wird an statistischen Zahlen gemessen – der einzelne Mensch taucht nicht auf, weil diese Maßnahmen populationszentriert sind.

Pflege ist immer patientenzentriert, nie populationszentriert. Wir können den Populationsaspekt hier also getrost weglassen.

  • Wenn man mal genau liest, dann erkennt man, dass gar nicht die Qualität, sondern die Wirksamkeit definiert wird. Wirksamkeit ist das Merkmal einer Leistung, das die Wahrscheinlichkeit eines gewünschten Ereignisses erhöht. Oder anders ausgedrückt: die IOM-Definition reduziert die Qualität auf Wirksamkeit. Erst 10 Jahre später ist dieser Fehler durch den Bericht „To Err Is Human“ korrigiert worden. Denn Sicherheit ist mindestens genauso wichtig wie Wirksamkeit. Schon deswegen sollte man die Definition von K. LOHR 1990 endlich verwerfen.
  • Die Dienstleistungen sollen „consistent“ (vereinbar, nicht widersprechend) mit professionellem Wissen sein. Was aber ist professionelles Wissen? Wer stellt das fest? Ändert sich das nicht ständig? Wie sieht es mit Innovationen aus? Recht besehen ist dieser Teil der Definition ungeheuerlich: die Leistungen dürfen den Meinungen des (ärztlichen?) Berufsstandes nicht widersprechen. Florence Nightingale hätte keine Chance gehabt.

Heute sagt man: sie müssen evidenzbasiert sein. Das meint aber etwas anderes: Die Aussagen über die Leistungen (wie wirksam, wie sicher oder annehmbar sie sind) müssen auf Belegen basieren. „Evidenzbasiert“ ist also kein Qualitätsmerkmal der Leistung, sondern der Aussage über Leistungen. Wenn Oma mir Kümmeltee gegen Verstopfung empfiehlt, weil schon ihre Oma Kümmeltee empfohlen hat, dann ist das keine Evidence – kann aber trotzdem sehr wirksam sein, sicher sowieso, wg. des Geschmacks dagegen wenig annehmbar (unangenehm). Dafür haben wir aber keine Belege, nur Omas Wort.

Kommentar 2

Leider hat das IQTIG drei Fehler übernommen und einen hinzugefügt:

  • Die Versorgung von Populationen ist populationsorientiert. Eine Versorgung von Individuen ist patientenzentriert. Eins geht nur zurzeit. Eine Versorgung von Populationen ist eben nicht patientenzentriert. Aber die Pflege braucht diesen Punkt nur zu streichen. Sie ist nie populationsorientiert.
  • Immerhin übernimmt die IQTIG-Definition eine Formulierung aus der DIN EN ISO 9000:2015: die „Erfüllung von Anforderungen“. Woran kann man aber erkennen, ob die Anforderungen erfüllt werden? Das erfährt man nicht. Die ISO sagt dagegen klar: die Merkmale der Leistung müssen die Anforderungen erfüllen. Nicht nur ein Merkmal, sondern ein „Satz von Merkmalen“. „Ein Satz von“ meint Merkmale, die zusammengehören aber nicht miteinander verrechnet werden dürfen.

Leistung oder Produkt als Gegenstand der Betrachtung sind von der ISO 9000 ganz konkret gemeint – eben die einzelnen Pflegeleistungen, nicht ein abstrakter Sammelbegriff wie „die“ Pflege. „Versorgung von Einzelpersonen“ ist die Bezeichnung für eine Menge von pflegerischen Leistungen, von denen jede für sich Anforderungen erfüllt oder eben nicht. Weil die IQTIG-Definition den Gegenstand der Betrachtung als „Versorgung“ unbestimmt und den „Satz von Merkmalen“ unter den Tisch fallen lässt, ist die Definition verdorben.

  • Die IQTIG-Definition fügt einen weiteren Fehler hinzu: Während in der IOM-Definition die „health services…consistent with current professional knowledge sein müssen, sollen in der IQTIG-Definition die Anforderungen „in Einklang mit professionellem Wissen stehen“. Was auch immer „Einklang“ heißen soll – eins muss klar sein: Anforderungen sind nicht abhängig vom Wissen. Wenn ich die Anforderung habe, von meinem Krebs geheilt zu werden, die Ärzte mir aber erklären, zurzeit gäbe es kein wirksames Heilmittel, dann haben sie ja recht – meine Anforderung ändert sich dadurch aber nicht.

Kommentar 3

Ob man den oder die, für die eine Pflegeleistung bestimmt ist, nun Patient/in oder Bewohner/in nennt, überlasse man dem allgemeinen Sprachgebrauch. Im Krankenhaus ist es der Patient, im Wohnheim der Bewohner, in der Pflege die zu Pflegenden. Oder analog zum Impfling (dem zu Impfenden) vielleicht der Pflegling? Da ringen wir immer noch um eine treffende Bezeichnung. „Pflegebedürftiger Mensch“ ist genau das, was gemeint ist, ist aber weder ein gebräuchlicher noch ein besonders schöner Ausdruck.

Kommentar 4

Die Bezeichnung „Patientensicherheit“ hat sich durchgesetzt. Sie verdeckt aber, dass damit die Sicherheit der Leistungen für den Patienten gemeint ist. Sicherheit ist ein Merkmal der Leistung, nicht des Patienten. Richtiger wäre also Schutz der Patienten vor der Unsicherheit der Medizin. Nun gut. Jeder weiß, was gemeint ist.

Nicht klug finde ich die Unterscheidung von vermeidbaren und unvermeidbaren Unerwünschten Ereignissen (UE). Auch angeblich unvermeidbare sind ja unerwünscht und können ziemlich unangenehm sein. Ein Verfahren, bei dem mehr „unvermeidbare“ UEs auftreten, ist eben unsicherer als eins mit weniger. Ein Verfahren, mit dem diese doch vermeidbar sind, ist dann besser.

Kommentar 5

Ich würde durchgängig von Merkmalen sprechen, nicht von Dimensionen. Das wäre fachlich richtig. In der Grafik sind ja auch Merkmale genannt. Die Bezeichnung „Dimensionen“, wie sie bei Donabedian und unter Berufung auf ihn auch vom IQTIG benutzt wird, ist im QM ungebräuchlich und widerspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch.  Oder wer nennt Wirksamkeit und Sicherheit „Dimensionen“ eines Arzneimittels?

Kommentar 6

Alles, was von hieran folgt, schlägt sich mit dem Problem der Leistungserstellung unter erschwerten Bedingungen herum und wie Qualität unter eingeschränkten Ressourcen möglich wäre.

Das gehört alles nicht mehr zum Qualitätsbegriff, sondern zu den Voraussetzungen, unter denen versucht wird, die Anforderungen zu erfüllen. Ich schlage vor, diese Absätze zu streichen.

Vielleicht wäre hier aber der Platz, mal den Gedanken der Anspruchsklasse zu erläutern.

Das „Fazit“ ist noch sehr verworren und grammatikalisch nicht immer richtig.

Die zusammenfassende Darstellung als Definition im vorletzten Absatz erfüllt nicht die Anforderungen an eine Definition. Sie nimmt das vorher gesagte nicht richtig auf. Das gilt auch für den letzten Absatz. Ich würde diese beiden Absätze ohne Überarbeitung nicht hinausgehen lassen.

Beim Durcharbeiten des Dokumentes habe ich den Text kräftig redigiert. Vielleicht gefällt Ihnen ja das Eine oder Andere.

Fahrdorf, den 2020-04-09